Eine Kirchenführung
Von welcher Seite auch immer sich der Besucher Bad Sooden-Allendorf nähert, unübersehbar ist der Turm (1) der St. Crucis‑Kirche im Stadtteil Allendorf, der eine Höhe von fast 62 in erreicht. Am Fuße des Turmes, links vom Eingang, weist eine in gotischen Minuskeln geschriebene lateinische Inschrift (2) aus, dass man mit dem Bau am Tag nach dem St. Urbanfest, d.h. am 26. Mai im Jahre 1424, begonnen hat [anno. d(o)m (ini). in. cccc. xx. iiii. cequenti. die. s(anc)ti. urbani. inceptu(s). e(st). op (us)].
Das Portal (3), durch das der Besucher den Turm betritt, stammt möglicherweise schon aus dem 14. Jahrhundert und wurde von der Stelle, wo sich heute der Durchgang in die Kirche befindet, hierher versetzt. In der Turmhalle (4) befand sich vor dem großen Brand von 1637 eine Turmkapelle, deren Reste der Gewölbebögen noch gut zu erkennen sind. Heute befindet sich an der linken Wand eine Gedenkstätte (5) für die Opfer der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Gegenüber, über der Barocktreppe (6), die aus den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stammt, ist die alte Wetterfahne des Turms befestigt. Der Turm wurde erst im Jahre 1719 so hergestellt, wie er heute zum vertrauten Stadtbild gehört, mit "welscher" Haube und umlaufender Galerie.
In der hinteren linken Ecke der Turmhalle befindet sich ein kleiner Durchgang (rechter Hand ist ein Lichtschalter) zu einer Wendeltreppe, die früher den Aufgang in den Turm darstellte. - Nachdem letzten Umbau der Kirche Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde ein Abgang, der in den Turmkeller führt vermauert. - Auf dem Boden des Durchgangs sind die Bruchstücke zweier Grabplatten (7) zu erkennen, die dem 13. / 14. Jahrhundert zuzurechnen sind. Die vordere dieser Kreuzplatten, zu der das kleine Bruchstück an der Lattentür (diese wurde 2004 in Richtung Turmhalle vorverlegt) gehört, mit Nasen, Lilien und den Handwerkszeichen eines Schuhmachers, „ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand das aufwendigste und künstlerisch reichste gotische Grabmal eines Schuhmachers in Mitteleuropa“.
Wir verlassen die Turmhalle und gelangen über mehrere Stufen und einen schmucklosen Durchgang in das Kirchenschiff Auffällig ist, dass der Boden des Kirchenschiffes höher liegt als die Turmhalle und die benachbarte Taufkapelle. Möglicherweise befinden sich, wie aus einer Notiz in der Chronik der Kirchengemeinde geschlossen werden kann ("In der Mitte der Kirche in der Nähe, wo früher der Altar gestanden hat, stieß man (bei der Renovierung 1958) auf einen unterirdischen Hohlraum, in den die Arbeiter weit mit der Schippe reichen konnten. Entweder war es eine Gruft oder etwa der unterirdische Gang, der von der Kirche aus nach dem Klausberg hin gehen soll.“) unter der Kirche Hohlräume (Gewölbekeller bzw. Gänge und Gruften oder sogar eine Krypta). Der Durchgang von der Turmhalle führt in die sogenannte "Winterkirche". Von dort besteht die Möglichkeit über die rechter Hand befindliche Treppe auf die Empore zu gelangen. Hier bietet sich ein guter Blick in den Innenraum der Kirche.
Dem heutigen Betrachter bietet sich die Kirche als ein großer und relativ schmuckloser Saalraum mit anschließendem gotischen Gewölbechor dar. An den Wänden des Kirchenschiffes sind teilweise noch die alten Gewölbeansätze erkennbar, die darauf hinweisen, dass der heutige saalartige Raum ursprünglich eine zweischiffige Hallenkirche war. Der große Brand von 1637 vernichtete neben dem Inneren des Turmes auch die Gewölbe der Kirchenschiffe, nur der nach Osten liegende Chorraum ist in seinen gotischen Architekturteilen mit den fünf großen Fenstern und dem Gewölbe erhalten geblieben.
Auffällig im Schiff ist die Barockkanzel (8) von 1684, ein Meisterwerk handwerklichen Könnens mit feinem, vielfältigem Dekor. Heinrich Erdinger aus Schmalkalden arbeitete sie. Unter dem Kanzeldeckel stehen Buchstaben, die auf den damaligen Allendörfer Superintendenten Wetzel und den Diakonus Gerung hinweisen. Daneben findet sich, mit einem besonderen Ornament umgeben, das Prophetenwort: "Sage es, so hast du deine Seele gerettet". Auf dem Kanzeldeckel steht der Pelikan, kunstvoll geschnitzt, wie er sich mit scharfem Schnabel die Brust aufritzt, um in der Not seine Kleinen mit dem eigenen Blute zu nähren. Der Pelikan ist ein christliches Symbol, das auf den Opfertod Christi für die Seinen hinweist. Der vor der Kanzeltreppe stehende Pfarrstand (9) gehört, nach seiner Ornamentik zu urteilen, mit zu der schmuckfreudigen Kanzel.
Durch den Triumphbogen ‑ bis 1840 existierten an dieser Stelle, entsprechend der früheren Zweischiffigkeit, zwei asymmetrische Triumphbögen ‑ geht der Blick in den Chor mit seinem Altar (10) aus dem Jahre 1637 und der seit 1973 dahinter stehenden kleinen Orgel (11), die aus der einsturzgeführdeten Weißenbacher Kirche hierher gebracht wurde. Vermutlich wurde die Weißenbacher Orgel um 1875 gebaut. (Die große Orgel, 1959 unter Verwendung älterer Teile errichtet, ist heute leider nicht mehr bespielbar.) In die drei mittleren der fünf gotischen Chorfenster (12‑14) hat der Kunstmaler Heinz Hindorf (+ 1990) bei der Erneuerung der Kirche im Jahre 1959 in der Art der alten Gotik die Heilsgeschichte der Heiligen Schrift eingebracht. Das rechte Fenster (12) zeigt Szenen von der Schöpfung bis zur Geburt Jesu. Im Zentrum des mittleren Fenster (13) stehen Kreuzigung und Auferstehung Jesu. Links (14) hat Hindorf einzelne Stationen der Kirchengeschichte dargestellt. Weitere Zeugnisse seines Schaffens hat der Künstler in der katholischen St. Bonifatiuskirche und im alten Kurmittelhaus der Badestadt hinterlassen. Mit den Schluss‑Steinen (15‑17) des Chorgewölbes wird in 3 Variationen das Motiv zur Namengebung der Kirche dargestellt (St. Crucis Kirche = Heilig‑Kreuz‑Kirche): Das Lamm (15), der Pelikan (16) und der Phönix (17) opfern sich, um neues Leben entstehen zu lassen, wie Jesus es am Kreuz tat
An der rechten, der Südwand des Kirchenschiffs sind mehrere zugemauerte Durchgänge zu erkennen. Aus alten Notizen ist bekannt und bauliche Hinweise an der Außenseite der Südwand bestätigen es, dass bis ins 18. / 19. Jahrhundert dort eine sogenannte „alte Kapelle“ (18) sowie eine Sakristei (19) vorhanden waren. Außerdem befand sich, ursprünglich mit einem Wendeltreppenaufgang in der Mauer, die Kanzel in der Mitte der Südwand des Schiffes (20) ‑ was auch die dortige Lage der ehemaligen Sakristei erklärt. Dies weist darauf hin, dass die St. Crucis‑Kirche im späten Mittelalter (14. Jahrhundert) als Predigtkirche gebaut worden war. Nach dem Bau des Kirchturmes hat man nach Norden hin, an den Turm und an das Schiff angelehnt, die Taufkapelle (21), auch Neue Kapelle, angebaut. Sie diente nach der Reformation zusammen mit dem oberen Stockwerk als Raum für die Allendörfer Lateinschule.
Ab 1906 beherbergte diese Kapelle das städtische Archiv, welches 1959 in das Hochzeitshaus gebracht wurde und sich heute im Rathofgebäude befindet. Heute ist die Taufkapelle ein Andachts‑ und Feierraum für kleinere kirchliche Veranstaltungen. Ein Teil der alten gotischen Maßwerkfenster der Taufkapelle befindet sich heute in dem 1831 erbauten Kreger'schen Jagdhäuschen im Hainbachtal (östlich von Schloss Rothestein). Auch an der Außenseite der Nordwand lassen sich Spuren der langen und komplizierten Geschichte der St. Crucis‑Kirche entdecken: Zwischen dem östlichen Abschluss der Taufkapelle und der in das Schiff führenden Tür sind die Reste einer älteren Tür (22) zu erkennen, die wahrscheinlich zugemauert wurde, als kurz nach 1424 die Taufkapelle errichtet wurde. Etwas weiter sind zugemauerte Durchgänge (23) zu sehen, an deren oberstem Sturz die Jahreszahl 1506 zu lesen ist. Und noch einige Schritte weiter, in der Ecke hinter der zum Chor führenden Tür, sind die Reste eines kleinen abgebrochenen Türmchens (24) erkennbar ‑ und darüber, im Winkel von Strebepfeiler und Chorwand ist der Überrest einer Figur mit spätmittelalterlicher Bekleidung zu entdecken. So kann die St. Crucis‑Kirche viel aus der Geschichte dieser Stadt erzählen ‑ und möglicherweise reichen einzelne aus Vorgängerbauten übernommene Teile bis in die Zeit der ersten urkundlichen Erwähnung von Stadt und Pfarrei Allendorf im Jahre 1218 und davor zurück.
Holger Herrmann, Pfr.